: Relief der Urschweiz. Entstehung und Bedeutung des Landschaftsmodells von Franz Ludwig Pfyffer. Zürich 2007 : NZZ Libro, ISBN 978-3-03823-257-5 232 S.

Bürgi, Andreas (Hrsg.): Europa Miniature. Die kulturelle Bedeutung des Reliefs, 16.–21. Jahrhundert = il significato culturale dei rilievi plastici, XVI–XXI secolo. Zürich 2007 : NZZ Libro, ISBN 978-3-03823-256-8 235 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Daniel Speich, Institut für Geschichte Technikgeschichte

Im Gletschergarten von Luzern steht ein Kuriosum besonderer Art: das «Relief der Urschweiz», das der Solddienstunternehmer Franz Ludwig Pfyffer von Wyher in den 1760er- und 1770er-Jahren erstellte. Es misst 6,7 x 3,9 Meter und bildet eine Fläche von ca. 3500 Quadratkilometern des Zentralschweizer Bodens in drei Dimensionen ab. Andreas Bürgi hat ihm ein mehrjähriges Forschungsprojekt gewidmet, dessen Abschluss zwei Publikationen markieren. Ein Sammelband beleuchtet die europäische Kulturgeschichte des Reliefbaus. Vor allem aber ist eine reich illustrierte Monografie zum Pfyffer-Relief entstanden, die ein bemerkenswertes Stück Technik-, Politik- und Kulturgeschichte darstellt.

Das Relief von Pfyffer ist physisch ein Unding. Es ist gross und unhandlich, eine krasse Bastelei, bestehend aus Gips und Sand, Tonscherben, Holz, Wachs, Holzkohle und zahlreichen weiteren Materialien, die der Erbauer gerade zur Hand hatte. Eine Materialanalyse, die Bürgi beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Auftrag gab, förderte allein in den obersten zwei Millimetern bis zu 23 verschiedene Schichten von Firnis und Übermalungen, Verschmutzungen und Abschleifungen, und erneuter Übermalung zu Tage. Ebenso vielschichtig und heterogen ist auch die Geschichtlichkeit der sperrigen Installation. Ihre Entstehung will nicht so recht in die bekannten Narrative der Aufklärung passen. Und welche vermessungstechnische, militärische und kulturhistorische Bedeutung der Arbeit von Pfyffer zukommt, ist nicht leicht zu eruieren.

Bürgi greift weit aus und begeht mitunter historiografisches Neuland. In minutiöser Recherche hat er die Lebensumstände des Reliefbauers rekonstruiert, der 1716 als Sohn eines Luzerner Militärunternehmers geboren wurde und bereits 1727 den Besitz der Familienkompanie erbte. Nach der entsprechenden Ausbildung übernahm Pfyffer 1736 deren Kommando, gewann Zugang zu den engsten Kreisen der französischen Monarchie, und verlor diese privilegierte Hofposition mit den Militärreformen unter Etienne de Choiseul zu Beginn der 1760er-Jahre wieder. Nun wurde er mit der heiklen Aufgabe betraut, das neu geordnete französische Soldwesen in den Innerschweizer Kantonen zu propagieren. Die Quellen zu Pfyffers Leben und Wirken sind spärlich und es fehlt noch immer eine aktuelle Überblicksdarstellung zur kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung des Soldwesens. Trotz dieser Lücken gelingt es Bürgi, ein überzeugendes Bild zu zeichnen. Es konturiert Pfyffer als vehementen Vertreter des Ancien Régime, der mit Herablassung auf die «wilden» Landsgemeindeorte blickte.

In Luzern stieg Pfyffer rasch zu einem der mächtigsten Patrizier auf, der die politischen Geschicke des katholischen Standes dominierte. Er wendete die neuesten Techniken des Militäringenieurwesens zum Beispiel im Strassenbau an, begann das Luzerner Gebiet nach den aktuellen Regeln der Kunst kartografisch zu vermessen und modellierte seine Heimat dreidimensional. Zugleich blieb er aber den Schinznacher Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft bewusst fern, die sich mit eben solchen Formen praktischer Aufklärung beschäftigten. Zwischen der technischen Rationalität im Ingenieurbereich, der Modernisierung der Staatsverwaltung und politischen Reformversuchen bestanden in der Schweiz des ausgehenden Ancien Régime keine notwendigen Verknüpfungen. Bürgi gelingt es am Beispiel seines Protagonisten auf eindrückliche Weise aufzuzeigen, wie problemlos einzelne Zeitgenossen sich in dem Feld bewegten, das rückblickend – und auf das säkulare Modernisierungsnarrativ bezogen – als äusserst widersprüchlich erscheinen muss. Der Januskopf, von dem Rudolf Braun gesprochen hat, will bei Pfyffer partout nicht in Erscheinung treten.

Das Hauptkapitel des Buches, das unter Mithilfe von Madlena Cavelti Hammer, Jana Niederöst und Oscar Wüest entstand, rekonstruiert die technische Machart und die geodätische Präzision des Reliefs. Beide werden als hervorragend eingestuft. Bei der Höhenmessung der zentralschweizerischen Alpen nahm Pfyffer offenbar eine bisher unterschätzte Pionierrolle ein. Der General brachte einen Gegenstand in die Welt, der quer durch Europa grosses Aufsehen erregte. Lange fehlte zu seiner Bezeichnung ein gültiges Wort. War es ein Modell? Eine Darstellung? Ein «bas-relief» oder ein «haut-relief»? Oder ein Beispiel für die «Kunst, Land abzuformen», ein «Kunstwerk», wie Johann Bernoulli vorschlug? Es war mehr als eine Landkarte und unvergleichbar mit den Festungsreliefs, die im Louvre zu militärischen Zwecken gesammelt wurden. Bestaunt haben es Alessandro Volta, William Coxe, Goethe, Christoph Meiners, Johann Gottfried Ebel und viele andere. In ihren Schilderungen geriet der Reliefbauer selbst zur Verkörperung des naturverbundenen, alpinen Schweizergeistes, den Pfyffer bei den Urnern und Nidwaldnern nur als rohe Primitivität wahrnahm. Grund für den Erfolg – so Bürgi – war die Kongruenz der neuen Darstellung mit der aufgeklärten Forderung nach Transparenz: «man könne auf dem Relief alles auf einen Blick sehen», hielten die faszinierten Besucher fest. Völlig konträr zu seiner politischen Haltung hatte der Patrizier ein Symbol geschaffen für die säkulare gesellschaftliche Erfahrung der Entgrenzung des Blicks. Paradigmatisch hatte sich diese Emanzipation der visuellen Wahrnehmung in der Ballonfliegerei verdichtet, die im späten 18. Jahrhundert zu euphorischen Visionen Anlass gab und die auch vom mittlerweile stark gealterten Pfyffer aufmerksam verfolgt wurde.

So gross und ungeteilt die Begeisterung der frühen Alpenreisenden für das Luzerner «Kunstwerk» bis ca. 1790 gewesen war, so rasch geriet es im frühen 19. Jahrhundert in Vergessenheit. Eine neue Generation von Kartografen und Geodäten grenzte sich bewusst von dem Dilettanten ab, um ihre eigene Professionalität zu untermauern. In der Kartografiegeschichte stabilisierte sich zu Unrecht die Vorstellung, Pfyffer habe ungenau gearbeitet. Auch hier betont Bürgi die auffallenden Widersprüche: Trotz des vernichtenden Urteils, das etwa Hans Konrad Escher über das Relief abgab, diente es den napoleonischen Truppen als wertvolle Informationsquelle im zweiten Koalitionskrieg. Das sperrige Ding blieb weiterhin brauchbar, aber es verlor seine imaginative Kraft. Erst 1873, als sich Luzern als Magnet der aufblühenden Tourismusindustrie etablierte, erlangte Pfyffers Relief erneut Aktualität. Die Landschaft des 18. Jahrhunderts, in der es entstanden war und auf die es verwies, hatte sich verändert. Die Gotthardlinie wurde in die Darstellung eingearbeitet und die Siedlungsentwicklung auf den neuen Stand gebracht. In dieser Form gelangte das Relief in den Luzerner Gletschergarten, wo es im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich verstaubte – um im anbrechenden digitalen Zeitalter der virtuellen Geländemodellierung erneut breites Interesse zu wecken.

Von dem Objekt her, das gewiss eine Marginalie der Schweizer Geschichte darstellt, gestaltet Bürgi ein facettenreiches Panorama der Zeit Pfyffers und des sozialen Wandels seither, ohne hierzu eine grosse Rahmenerzählung zu benötigen. Nach diesen grossen Linien sucht hingegen der zeitgleich erschienene Sammelband, der auf eine Tagung am Istituto di Storia delle Alpi der Università della Svizzera Italiana in Lugano im Jahre 2004 zurückgeht. Die qualitativ recht unterschiedlichen Beiträge unternehmen den Versuch, das schwierige Medium des Reliefs zwischen Landkarten, Panoramen, Dioramen und Ballonflug kulturhistorisch zu verorten.

Nach zwei einleitenden Texten von Bürgi und von Bruno Weber folgen einige kurze Texte, die sich der oberitalienischen Modellbaukunst des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts annehmen und damit einen kulturgeschichtlichen Ausgangspunkt skizzieren. Eine Reihe von Beiträgen – so der von Jana Niederöst über ihre virtuelle Remodellierung des Pfyffer-Reliefs, oder der von Isabelle Warmoes über die französische Tradition der Plans-en-Relief bieten wertvolle Ergänzungen zur Monografie. Schliesslich konkretisiert der Sammelband die Faszination für Geländereliefs, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam. Ein Ausgangspunkt hierfür war das Aufblühen der Geologie, das Carlo Sarti für die Universität Bologna rekonstruiert. Felix Bürchler zeigt, wie bedeutend Reliefs in der Schweizer Volksschule als didaktische Instrumente der Heimatkunde waren. Madlena Cavelti Hammer porträtiert den wohl wichtigsten Schweizer Reliefbauer der Zeit um 1900, Xaver Imfeld. Und Susanne Grieder bringt einen Überblick über die Spuren dieser Blütezeit, die sich heute in der Sammlung des Alpinen Museums Bern finden. Den Schluss bilden zwei Reflexionen, die aus technischer Perspektive (Martin Rickenbacher) und in kulturwissenschaftlicher Hinsicht (Christine Buci-Glucksmann) die neue Aktualität von Geländereliefs im Zeitalter der digitalen Kartografie aufnehmen. Das Gesamtbild, das der Sammelband entwirft, bleibt allerdings auffällig schwach. Reliefs sind hartnäckige Gegenstände, die sich nur schwer in eine Mediengeschichte einreihen lassen. Die Monografie von Bürgi zeigt vielmehr, wie fruchtbar es ist, bei einem einzelnen solchen Objekt zu bleiben, um von ihm aus Geschichte zu entfalten.

Zitierweise:
Daniel Speich: Rezension zu: Andreas Bürgi: Relief der Urschweiz. Entstehung und Bedeutung des Landschaftsmodells von Franz Ludwig Pfyffer. Zürich, NZZ Libro, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 467-473.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 467-473.

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